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Rudolf Taschner: „Bildung – ein Missverständnis“

Lesen bildet - aber Bildung und Ausbildung sollten unterschieden werden, schreibt Rudolf Taschner in seinem Essay "Bildung - ein Missverständnis". Fotos: ÖNB / Klaus Pichler

Bildung. Kaum ein anderes Wort wird so wohlwollend genannt, so verheißungsvoll vorgetragen wie dieses. Kaum ein anderes Wort verheißt so viel gesellschaftliche Distinktion wie dieses. „Bildung – ein Missverständnis“: Ein Essay von Rudolf Taschner, Wissenschaftssprecher der ÖVP, zur bedeutsamen Unterscheidung von Bildung und Ausbildung – und wer wofür zuständig ist.

 

Ein bedeutungsschweres Wort

Bildung: Das Wort klingt bedeutungsschwerer als seine englische oder französische Übersetzung Education oder Formation. Der mittelalterliche Meister Eckhart von Hochheim hat es erfunden. Er formte das Wort Bildung aus der biblischen Botschaft, der Mensch sei Bild des Ewigen. Vom religiösen Ursprung gelöst, verspricht uns Heutigen Bildung die Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten und Talente, mit dem Ziel, so Wilhelm von Humboldt, „soviel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln“.

 

Die höchste Form von Bildung

Das erstrebenswerteste Ziel sei aber, so Jürgen Hoffmann in einem Vortrag am 8. Jänner 2010 vor der Humboldt-Gesellschaft „die höchste Form von Bildung, die zweckfreie und ergebnisoffene Beschäftigung vor allem mit Philologie, Philosophie und Geschichte an der Universität.“

Studieren bedeutet auch, zu lesen: Augustinerlesesaal der Nationalbibliothek

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Streben nach Wahrheit

„Seite an Seite“, so Hoffmann, „gehen Professoren (selbständig Forschende) und Studenten (geleitet Forschende) darin ihren Forschungsinteressen nach. Weder staatliche Interventionen noch kurzfristige Nützlichkeitserwägungen behindern sie in ihrem Streben nach der Wahrheit. Denn Bildung, nicht Ausbildung, ist das Ziel des Studiums. Das Ergebnis: durch Wissenschaft gereifte Persönlichkeiten.“

 

Ein Missverständnis

Doch das von Hoffmann so betörend entworfene Bild ist in Wahrheit trügerisches Blendwerk. Nichts daran stimmt. Das Missverständnis von Bildung, dem er unterliegt, besteht in seiner Behauptung, Bildung erklimme, an den Schulen, vorrangig an den Gymnasien ansetzend, über die Hochschulen erst an den Universitäten und dort an den klassischen humanistischen Fächern ihre „höchste Form“. Bildung verwirkliche sich, abseits der beruflichen Ausbildung, allein in der Freiheit von Forschung und Lehre vollkommen.

Doch das stimmt ganz und gar nicht.

 

Wie ein Gebildeter sein soll

Hört man Wilhelm von Humboldts eigene Worte, vernimmt man, dass ein Gebildeter „ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger“ sein soll. „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf“, schreibt Humboldt seinem Souverän, dem preußischen König. Humboldt nimmt dabei niemanden aus. Ausdrücklich nennt er „Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann“, nicht jedoch Student oder Professor. Sie sind wohl bei all den anderen – wie man heutzutage sagt – „mitgemeint“.

Hüter des aufgezeichneten Wissens: Bücherspeicher der Nationalbibliothek

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Die Bedeutung der ersten Vorbilder

Also keine Rede von der höchsten Form der Bildung an den Universitäten. Was Bildung anlangt, rangieren sie unter ferner liefen. Der wahre Brennpunkt des Erwerbs von Bildung ist anderswo zu finden: im Elternhaus. Die ersten Lebensjahre eines Menschen sind die für sein Selbst- und sein Weltverständnis wesentlichen. Mutter, Vater, die nächsten Verwandten und Freunde sind die ersten Vorbilder, prägen das Kind maßgeblich. An ihnen, was sie erzählen, was sie lehren, was sie tun, klammert es sich, um „soviel Welt als möglich in die eigene Person zu verwandeln“.

 

Lernen erlernen

Nicht Hochschule und Universität, Kindergarten und Volksschule sind die wesentlichen Bildungsinstitutionen. Bundeskanzler Christian Stocker brachte es kürzlich lapidar auf den Punkt: Er erwarte sich, dass dort Lesen, Schreiben, Rechnen gelernt wird, „und Grüßen wäre auch ganz schön“.

Dieses „Grüßen wäre auch ganz schön“ bringt den gar nicht groß genug einzuschätzenden Bildungsauftrag auf den Punkt, den diese Institutionen erfüllen müssen: Neben Lesen, Schreiben, Rechnen auch korrektes Denken und stimmiges Empfinden altersgemäß zu lernen. In früheren Zeiten war es selbstverständlich, dass darauf Bedacht genommen wird.

Inwieweit dies bei der Fülle an Ablenkungen, vor allem durch digitalen Schrott, und bei den von Zeitgeist und Moden hervorgerufenen Sonderwünschen und Beeinträchtigungen heute in der nötigen Ernsthaftigkeit gelingt, sei dahingestellt.

 

Hohe Verantwortung der Institutionen

Daran schließen Mittelschule, Berufsschule, berufsbildende Schule und Gymnasium, die junge Menschen während ihrer Pubertät und Adoleszenz zu reifen Persönlichkeiten formen.

Da in dieser Zeit die Abnabelung vom Elternhaus, der ersten, prägendsten Bildungsstätte, erfolgt, lastet auf diesen Bildungsinstitutionen ein hohes Maß an Verantwortung. Von ihnen wird erwartet, dass aus ihnen Mündige hervorgehen, die Immanuel Kants Aufforderung ernst nehmen, sich ohne Anleitung eines anderen des eigenen Verstandes zu bedienen, die in sich ruhend und gefestigt sind, die reflektiert ihre Rechte sowie ihre Pflichten der Gesellschaft und dem Staat gegenüber wahrzunehmen bereit und befähigt sind.

In diesem Sinn ist Bildung für alle Erwachsenen gedacht, seien sie, Frau wie Mann, „Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann“. So wie viele andere, vom Bauern bis zum Manager. Auch Student und Professor.

Massenmedien vermittelten aktuelle und relevante Informationen: Zeitungslesesaal der ÖNB

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Die Rolle von Hochschulen und Universitäten

Hochschulen und Universitäten sind hingegen keineswegs vorrangig Bildungsstätten. Sie mögen zur Bildung beitragen, wie dies auch Theater, Konzertsäle, Opernhäuser, Museen sowie Fußballstadien, Golfplätze und andere Orte vermögen. Zuvorderst aber sind Hochschulen und Universitäten Ausbildungsstätten. Denn es sind, so die Wunschvorstellung, bereits Gebildete, die an diesen Institutionen wirken. Und sollte es – was leider so selten nicht vorkommt – Ungebildete oder, noch schlimmer, Halbgebildete an eine Hochschule oder Universität verschlagen, mögen diese an ihr reüssieren oder scheitern, dort jedoch Bildung zu erlangen, ist eher ein Glücksfall, der sich in einer Begegnung mit einer beeindruckenden, Bildung ausstrahlenden Persönlichkeit ereignet. Aber dieser Glücksfall kann sich auch andernorts ereignen, nicht unbedingt auf akademischem Boden.

 

Auftrag zur Ausbildung

Die mittelalterlichen Universitäten mit ihren drei Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin bildeten zum gelehrten Priester, zum Richter, Anwalt, Notar und zum Arzt aus. Diesen seit jeher bestehenden Auftrag zur Ausbildung nehmen auch die heutigen Hochschulen und Universitäten wahr, allein die Palette der akademischen Berufe ist ungleich bunter geworden.

 

Untrennbar mit Forschung verwoben

Als Ausbildungsstätten zeichnen sich Hochschulen und Universitäten von allen anderen nicht durch einen Bildungsauftrag, sondern dadurch aus, dass sie untrennbar mit Forschung verwoben sind.

Selbst Disziplinen, bei denen es nichts Neues mehr zu entdecken gibt, wie zum Beispiel die Anatomie innerhalb der Medizin, das römische Recht innerhalb der Jurisprudenz, die lineare Algebra innerhalb der Mathematik, werden forschungsgeleitet gelehrt: weniger auf Kenntnisse, vielmehr auf Erkenntnisse kommt es an.

Die Bibliothek des Parlaments setzt Themen, voriges Jahr etwa zum Antisemitismus. Foto: Johannes Zinner

Die Bibliothek des Parlaments setzt Themen, voriges Jahr etwa zum Antisemitismus. Foto: Johannes Zinner

Ausbildung zu Experten

Doch man mag es drehen und wenden, wie man will: Egal, ob lang bekannte Einsichten grundlegender Natur gelehrt werden oder ob an der Front der Forschung um Gewissheit gerungen wird, stets kommt es darauf an, zum fachlich firmeren Experten ausgebildet zu werden. Mit Bildung hat das nichts zu tun. Der bestausgebildete Fachmann kann ein ungebildeter „Techniker des Wissens“ bleiben. Die Behauptung, akademische Institutionen schüfen „durch Wissenschaft gereifte Persönlichkeiten“, entbehrt jeglicher Stichhaltigkeit, widerspricht jeglicher Erfahrung.

 

Hochschulen und Universitäten dienen der Ausbildung

Dass Hochschulen und Universitäten keine Bildungsstätten, sondern Ausbildungsstätten sind, belegen zudem die vielen Titel, die sie ihren Absolventen verleihen.

Bei der Bildung haben Titel natürlich nichts zu suchen, aber eine Ausbildung begleiten sie: Mit dem Bachelor oder dem Ingenieur wird kundgetan, dass die Anfangsgründe eines Studiums bis zu einem ersten, berufsqualifizierenden Abschluss bewältigt wurden. Mit dem Master oder dem Diplomingenieur schließt man ein vollwertiges Studium ab und hat sich für höhere berufliche Karrieren qualifiziert. Mit dem Doktorat und, darüber hinaus, mit der Dozentur wird bestätigt, an einer Hochschule oder Universität als Forscher und Lehrer arbeiten zu können.

 

Ein Irrtum

Selbstverständlich ist es unter anderem Bildungsgut, womit sich Hochschulen und Universitäten auseinandersetzen, Bildungsgut – ein leider hässliches Wort – im Sinne eines geistigen Guts mit bildendem, erzieherischem Wert. Diese Tatsache verführte Jürgen Hoffmann zu der These, Bildung werde an diesen Institutionen erworben, die „höchste Form der Bildung“ in den humanistischen Fächern mit Philologie, Philosophie und Geschichte an der Spitze. Er irrt sich, denn an diesen Institutionen wird das Bildungsgut nicht genutzt, um bildend oder erziehend zu wirken. Es ist vielmehr ungenutzter Gegenstand von Lehre und Forschung.

 

Zu den pädagogischen Hochschulen

Dies gilt im Besonderen für die pädagogischen Hochschulen, vor allem für die ihnen anvertraute Lehramtsausbildung. Im Unterschied zum Elternhaus, das ein naturgegebener Ort der Erziehung und Bildung ist, sind Kindergärten und Schulen künstlich geschaffene Bildungsorte. Demnach müssen die darin Wirkenden mit den darin eingerichteten Gegebenheiten, seien sie materieller oder geistiger Natur, vertraut werden. Mit anderen Worten: Wie gelingt es, in einer Gruppe von Kindern oder Jugendlichen verschiedensten Gemüts so zu erziehen und zu unterrichten, dass hieraus gebildete Menschen hervorgehen?

Tatsächlich erfährt man die Antwort darauf am besten in der Praxis, in der Beobachtung von Vorbildern, im Einüben und Kennenlernen von Misserfolgen wie auch in der Freude am Gelingen, die Ansporn dafür ist, noch besser zu werden. Doch theoretisches Wissen gehört auch dazu: fundiertes Fachwissen in den Disziplinen, die man unterrichtet, und pädagogisches Wissen, wie man in der Erziehungs- und Bildungsarbeit das Ziel erreicht, die Persönlichkeit jedes der anvertrauten Kinder oder Jugendlichen ernst zu nehmen und im Erwerb von Bildung zu unterstützen. Über dieses Wissen wird an pädagogischen Hochschulen nachgedacht und es wird den Studenten vermittelt. Kurzum: Auch pädagogische Hochschulen sind Ausbildungsstätten.

 

Zur Unterscheidung von Bildung und Ausbildung

Zum Abschluss eine persönliche Anmerkung: Die hier geschriebenen Zeilen stützen sich auf den Essay „Schluss mit dem Dekor!“, erschienen vor 15 Jahren in der „Presse“, mit dem Rudolf Burger wortgewaltig eine Philippika – so empfand sie sein Kritiker Gunther Tichy – gegen Universitäten und für Fachhochschulen, gegen Bildung und für Ausbildung losließ. „Universitäre ‚Bildung‘“, so lautet die Kernaussage Burgers, „ist, insofern sie überhaupt institutionell vermittelt werden kann, ein Kollateraleffekt von ‚Ausbildung‘.“

Inwieweit Tichy zurecht bemängelte, Burger habe mit seiner Verdammung eines humanistischen Bildungsideals übertrieben, will ich hier nicht erörtern. Wichtig ist mir die in einem Satz konzentrierte Einsicht, zu der ich nach mehrmaligem Studium von Burgers Essay gelangte:

Bildung bietet keinen zureichenden Grund, pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten verschieden hohe Wertschätzung entgegenzubringen und unterschiedliche Status zuzuweisen.

Plakativ nahm Burger diese Einsicht an einem Beispiel so vorweg: „Die ehrwürdigen medizinischen Fakultäten wurden sogar als Einzelne zu ganzen Universitäten erklärt; der Sache nach sind sie natürlich reine Fachhochschulen“ – was nur cum grano salis stimmt. Puncto international renommierter Forschung lassen sich im Allgemeinen pädagogische Hochschulen oder Fachhochschulen nicht mit Universitäten vergleichen. Aber das hat nichts mit Bildung zu schaffen..

Qualität von Bildung und Ausbildung sollte entscheiden: Prunksaal der ÖNB

Qualität von Bildung und Ausbildung sollte entscheiden: Prunksaal der ÖNB

Qualität der Ausbildung sollte entscheiden

Für das, wie Burger es nennt, „Status- und Prestigegerangel“ zwischen den akademischen Lehrinstitutionen gibt es keinen sachlichen Grund. Es schadet nur. Sie sollen danach bewertet werden, was sie leisten und wie sehr sie, direkt oder indirekt, zum Erhalt und zur Mehrung des Wohlstands beitragen – das Wort Wohlstand in voller Breite verstanden: nicht bloß materieller Wohlstand, auch geistiges Gedeihen und kulturelle Schätze miteingeschlossen. Insbesondere sollte allein die Qualität ihrer Ausbildungen darüber entscheiden, welche Titel, vom Bachelor bis zum Dozenten, sie verleihen dürfen.