Kommentare

Zur Sache gedacht: Die Weichen in der Schulpolitik sind gestellt

Zur Sache gedacht: Vorschläge zur Bildung von Prof. Dr. Rudolf Taschner. Foto: Zur-Sache

Seit jeher wogen heftige Diskussionen, wie Schule zu gestalten sei. Denn alle mit Politik Befassten erkennen in der Schule das Fundament für die Gesellschaft der Zukunft. Schule zu gestalten bedeutet zugleich Zukunft zu gestalten. Unter der zwischen 2006 und 2017 mehr als zehn Jahre währenden Ägide sozialdemokratischer Unterrichtsministerinnen wurden Maßnahmen gesetzt, die der Schule nicht gut taten. Aber seit Heinz Faßmann das Ministerium leitet, bewegt sich die Schulpolitik wieder in die richtige Richtung. Es gilt, in den kommenden Jahren diesen Zug zu beschleunigen. Dazu präsentiert Abg. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Taschner in seinem Kommentar vier Vorschläge.

 

Nehmen wir Abschied von Illusionen!

Im Gefolge der 68-Bewegung wuchert um das Schlagwort „Bildung für alle“ ein schier undurchdringliches Gestrüpp weiterer Schlagwörter. Nur ein paar seien beispielshaft genannt:

Es gelte, „Neugier zu wecken“. Wer das fordert, übersieht, dass Neugier das Laster der Klatschsüchtigen ist, dass sie sich am Oberflächlichen und Belanglosen ergötzt, dass sie von denen geschürt wird, die Gerüchte streuen. Eigentlich meinen jene, die Neugier wecken wollen, dass es gelte, Wissensdurst zu stillen. Aber das Wort „Wissen“ genießt in der Bildungsdebatte einen zunehmend schlechter werdenden Ruf und wird permanent durch die Vokabel „Kompetenz“ ersetzt.

Also gelte es, „Kompetenzen zu stärken“. Dieses Schlagwort verkürzt Bildung. Die Verengung des Wortes Kompetenz auf eine bloße Befähigung mündet ins Armselige. Denn allzu oft lehnen es die Verfechter der Kompetenzvermittlung ab, in den Blick zu nehmen, wozu befähigt wird: Man möchte bloß können; auf das Verstehen kommt es nicht an. Konrad Paul Liessmann verdeutlicht diese irrige Meinung am Beispiel der Lesekompetenz : „Früher lernte man lesen, um die wichtigsten Bücher kennenzulernen. Die Fähigkeit des Lesens war die Voraussetzung für literarische Bildung. Und diese bestand in der Auseinandersetzung mit einem Kanon. Heute gilt die Auffassung, es gebe gar keine wichtigen Bücher mehr. Was wir über unsere Welt wissen sollten, können wir über Videos erfahren. Lesen lernt man deshalb nicht mehr, um wichtigen Büchern oder Texten zu begegnen, sondern um alles Mögliche oder auch nichts zu lesen. Das ist der einzige Konsens in unserer Gesellschaft: Der Schüler sollte irgendwie lesen lernen, mit welchen Texten ist völlig gleichgültig.“

Lernen habe „Spaß zu machen“. Abgemildert wird diese einfältige Forderung, wenn man verlangt, Lernen müsse Freude bereiten. Aber auch das stimmt so nicht. Lernen der Vokabel einer Fremdsprache bereitet mehr Mühe als Freude. Man muss einfach lernen, dass le voyage (männlich) die Reise (weiblich) ist, während la gare (weiblich) der Bahnhof (männlich) ist. Begründung dafür gibt es keine, und sich das merken zu müssen, ist nützlich, doch kaum mit Freude verbunden.

Dann „komme es eben auf den Nutzen an“, wird weiter argumentiert. Nur was nützlich ist, was man für etwas brauchen kann, sei als Lehrstoff in den Unterricht aufzunehmen. Spießige Krämerseelen sind es, die dies verlangen, Kurzsichtige und dem Zeitgeistigen Nachhoppelnde, die nur die Gegenwart, aber nicht die Zukunft im Auge haben . In einer Zeit der Orientierungslosigkeit finden sie weithin Gehör.

 

Gerechtigkeit im Bildungswesen

Überlagert werden diese Schlagworte von der Forderung nach „Gerechtigkeit im Bildungswesen“, insbesondere jener nach „Chancengerechtigkeit“. Aber Gerechtigkeit ist, wie Friedrich von Hayek spitz bemerkte, ein Wieselwort, das zwar gut klingt, aber, nimmt man es ernst, verstört: Wie verträgt sich die individuelle Differenzierung, das Eingehen auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des einzelnen Kindes oder Jugendlichen, mit der Inklusion aller in den gleichen Verband? „Jedes Kind ist gleich viel wert“, wird postuliert, „gegen die Vererbung von Bildung“ wird polemisiert, doch just unter denen, die dies im Brustton der Überzeugung plakativ verkünden, finden sich viele, die keine Mühe scheuen, für das eigene Kind das Beste herauszuschlagen und es von sogenannten bildungsfernen Schichten fernzuhalten.

Angesichts der mit diesen Schlagworten verbundenen Wunschvorstellungen bleiben die mit der Realität des Schulalltags Konfrontierten ratlos zurück. Wie gelingt es, dieser Ratlosigkeit zu entkommen?

„Man befrage die Wissenschaft“, lautet die gängige Antwort. Eine Antwort, die jenen im Elfenbeinturm hockenden Bildungstheoretikern, die noch immer von den Idealen der 68-er Bewegung erfüllt sind, die willkommene Gelegenheit bietet, ihre akademisch entwickelten Konzepte anpreisen zu können. Aber in der Praxis nehmen sie sich doch anders aus, als es die Theorie versprach. Nur die Schlagworte vermehren sich um weitere wohlklingende Worthülsen.

Dieser verqueren Lage entkommt man wohl nur auf dem Wege der alexandrinischen Zerschlagung des gordischen Knotens. Vier „Schwertstreiche“ seien im Folgenden vorgeschlagen, die den Knoten zu lösen vermögen:

 

Gestalten wir taugliche Lehrpläne!

Lehrpläne sollen aus klaren Vorgaben dessen bestehen, was von den Schülerinnen und Schülern altersgemäß erwartet wird. Vereinfacht gesagt: Befähigungen des Lesens, Schreibens, Rechnens und – leider zu oft nicht genannt – des Denkens. Hinzu kommen Fremdsprachen-, vor allem Englischkenntnisse sowie Kenntnisse über Natur, Technik, Geschichte, Wirtschaft, Kultur, Religion. All dies lässt sich nach bewährten Methoden vermitteln und überprüfen.

Leider wurden in den letzten Jahrzehnten – womöglich aus Misstrauen Lehrern gegenüber – die Methoden in allzu detailliert verfasste Kompetenzraster aufgegliedert. Dies zerfranste die zu vermittelnden Lehrinhalte durch formale Kriterien und ruinierte sie nahezu. Eine Überbetonung standardisierter Testverfahren und ein blinder Glaube an die Sinnhaftigkeit internationaler Schulleistungsuntersuchungen wie zum Beispiel PISA stehen einer auf Eignungen und Neigungen, auf Interessen und Bedürfnisse abgestimmten, zielführenden und wirksamen Gestaltung des Unterrichts eher im Wege, als dass sie nützlich wären.

Schreiben wir es rundheraus: Die derzeitigen Lehrpläne sind überbordend, viel zu lang, viel zu detailliert, sie entmündigen die Lehrkräfte. Anscheinend hat man vergessen, wozu ein Lehrplan erstellt wird: In ihm wird der Lehrstoff eines Jahrgangs taxativ aufgezählt, um sowohl bei einem Wechsel der unterrichtenden Person im nächsten Schuljahr als auch bei einem allfälligen Klassen- oder Schulwechsel im nächsten Schuljahr sicher gehen zu können, von welchem Wissen und Können der Schülerinnen und Schüler auszugehen ist.

Deshalb genügen extrem schlanke, auf die Lehrinhalte konzentrierte Lehrpläne, sowie eine Einschränkung der Überprüfung des Gelernten auf kurze Inaugenscheinnahmen: Wird das Mindestmaß dessen, was zu erwarten ist, beherrscht, wird das Durchschnittsmaß dessen, was zu erwarten ist, getroffen, überschritten oder unterschritten? Die Noten, welche schließlich gegeben werden, ergeben sich einerseits aus diesen knapp gehaltenen Kontrollen, andererseits aus der Einschätzung der Lehrkraft, die den Wissenszuwachs bei ihren Schülerinnen und Schülern über lange Zeiträume hinweg beobachten kann.

 

Geben wir den Lehrkräften Freiheit zu unterrichten!

Über die prüfbaren Kompetenzen hinaus muss Schule als Ort der Entfaltung der Persönlichkeit durch Bildung gesehen werden: Dass man lesen kann, ist leicht zu testen; dass man Georg Trakls „Verfall“ in sich verinnerlicht, ist hingegen ein nicht prüfbarer Bildungsprozess. Wie gut man Englisch beherrscht, ist leicht zu testen; wie tief der „Indian Summer“ Emily Dickinsons zu beeindrucken vermag, entzieht sich objektiven Maßstäben. Dass man Systeme von zwei linearen Gleichungen in zwei Variablen zu lösen versteht, lässt sich kontrollieren, dass man sich mit ihrer Hilfe Gedanken zu Parallelität und Unendlichkeit macht, geht über Kontrollierbarkeit weit hinaus.

Wie bringt man diesen die Einzelpersönlichkeit ansprechenden Bildungsprozess in den Lehrplan unter, der doch für alle verbindlich sein soll? Gar nicht, lautet die Antwort. Vielmehr wird an dieser Stelle die wortreich verlangte, aber oft doch mit Misstrauen beäugte Autonomie der Schulen schlagend:

Jede Schule erstellt unter Leitung der Direktion in Zusammenarbeit von Vertretern der Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie mit Billigung der Bildungsdirektion ein eigenes, ihre jeweiligen besonderen Vorzüge berücksichtigendes Profil. In diesem dokumentiert sie, welche Schwerpunkte sie setzt, wobei die dafür speziell vorhandenen Qualifikationen der an der Schule unterrichtenden Lehrkräfte berücksichtigt werden. So sind Schulen mit fremdsprachlichem, mit mathematischem, mit technischem, mit sozialem, mit naturwissenschaftlichem, mit informationstheoretischem, mit humanistischem, mit musischem, mit sportlichem, mit handwerklichem, mit geisteswissenschaftlichem, mit wirtschaftlichem Schwerpunkt denkbar, auch mit anderen Schwerpunkten, mit deren Abstufungen und deren Kombinationen – der Möglichkeiten sind hierbei kaum Grenzen gesetzt. In Wahrheit ist diese Idee keineswegs neu: Musikgymnasien, Sportgymnasien, Werkschulheime, Höhere Technische Lehranstalten, Handelsakademien und andere mehr haben sie längst verinnerlicht. Es ist klar, dass die Profilierung von Schulen mit zunehmendem Alter der Kinder und Jugendlichen zunimmt: in Volksschulen wird sie in Ansätzen vorhanden sein, in den Oberstufen hingegen die Regel darstellen.

Dementsprechend gibt es neben der standardisierten Prüfung, ob das im Lehrplan als Lehrziel kodifizierte Wissen und Können erreicht wurde, die Präsentation oder der öffentlich einsehbare Nachweis der von den Absolventen gemeinsam mit ihren Lehrkräften erbrachten Leistungen, die den im Schulprofil umrissenen Vorgaben entsprechen.

 

Gestalten wir eine taugliche Lehramtsausbildung!

Das Gelingen von Schule steht und fällt mit der Persönlichkeit der Lehrkraft. Sie setzt den Keim für Eignungen und Neigungen der Kinder und Jugendlichen, sie unterstützt, fördert und stärkt deren Talente und sie hilft, vorhandene Defizite soweit auszugleichen, dass in allen Fächern, auch bei Vorhandensein von Schwächen, zumindest die grundlegende Bildung vermittelt werden kann.

Die derzeitige Lehramtsausbildung leidet an Defiziten: Erstens fehlen oft die gediegene fachliche Ausbildung für das Beherrschen des Unterrichtsgegenstandes und das beeindruckende Vorleben forschungsgeleiteten Denkens – nur dieses kennenzulernen ist nötig; Studierende des Lehramts zu zwingen, es aktiv zu betreiben, ist völlig überzogen. Zweitens fehlt der unmittelbare Praxisbezug, der von Anfang an nötig wäre, um den hohen Anspruch des Lehrberufs gleich zu Beginn erfahren zu können. Drittens ist die vorgesehene Studiendauer bei weitem zu lang.

Die Ausbildung zum Lehramt sollte vielmehr auf drei gleichgewichtigen Säulen ruhen: Die erste Säule ist eine solide fachliche akademische Ausbildung. Die zweite Säule ist eine praxisorientierte pädagogische Ausbildung an Pädagogischen Hochschulen. Die dritte Säule ist die Einübung des Gelernten in der Unterrichtspraxis unter Anleitung von erfahrenen und erprobten Lehrkräften. Wenn diese drei Säulen tragfähig genug sind, werden nach ihrem Lehramtsstudium der künftigen Lehrkraft die folgenden zwei Wesenszüge eigen sein, auf die es im Wesentlichen ankommt: Sie nimmt erstens die Persönlichkeit jedes einzelnen der ihr anvertrauten Kinder immer und überall ernst, auch wenn diese noch sehr jung sind und sehr unbeholfen wirken. Und sie ist zweitens in den Fächern, die sie unterrichtet, hervorragend ausgebildet worden, beherrscht diese vorzüglich, kann sie wunderbar vermitteln und ist von ihnen begeistert.

 

Nutzen wir in rechter Weise die Digitalisierung!

Jede technische Errungenschaft, welche in die Lebensweise eingreift, hinterlässt in der Schule ihre Spuren. In ganz besonderer Weise wird dies beim Hereinbrechen des digitalen Zeitalters der Fall sein. Die breite Nutzung elektronischer Datenträger führt unausweichlich, rasant und nachhaltig zu Umwälzungen in Erziehung und Unterricht, in Lehr- und Lernmethoden, in Schulgebäuden und Klassenzimmern. Die Umwälzungen zielen dabei in zwei Richtungen:

Erstens: Sie ändern das Unterrichten traditionellen Bildungs- und Ausbildungsgutes. Das Lernen von Vokabeln und Idiomen einer Fremdsprache ist computerunterstützt erfrischender und effektiver als in hergebrachter Art. Das Nutzen von Online-Foren und Eintauchen in Wikipedia-Artikel mit nachfolgender Verwendung der dortigen Verweise auf Quellen hilft bei der Erstellung von Projektarbeiten und von Referaten. Über Youtube den Vortrag eines Forschers zu erleben und so von einem Lehrstoff zu erfahren, den der Klassenlehrer selbst niemals ebenbürtig wiedergeben kann, bereichert den Unterricht. Und dass man aus den unermesslichen Tiefen des Netzes die eindrucksvollsten Szenen eines in der Klasse besprochenen Dramas vorspielen kann, ist genauso ein Zugewinn. Eine chemische Reaktion im Labor vorgeführt und zugleich mit einer Computeranimation auf dem Maßstab von Atomen und Molekülen veranschaulicht, ist nur eines der Beispiele, wie man naturwissenschaftlichem Unterricht Mehrwert verleiht.

Zweitens sind die jungen Menschen auf die durch Digitalisierung geprägte Welt vorzubereiten. Denn die künftigen Arbeitsfelder der meisten Absolventen werden von elektronischen Datenträgern durchdrungen sein, die es angemessen zu nutzen gilt. In den verschiedenartigsten Verzweigungen der Digitalisierung sind einerseits die faszinierenden Möglichkeiten ihrer Nutzung zu erfassen, andererseits die Grenzen des Gebrauchs aufzuzeigen.

Wobei diese Grenzen entweder deshalb zu ziehen sind, weil sie dem digitalen Medium zu eigen sind, oder aber deshalb zu ziehen sind, weil dies aus humanen Erwägungen heraus erforderlich ist. Eines von vielen Themen ist zum Beispiel, welche Möglichkeiten und welche Gefährdungen bei Servicerobotern, bei Micro-Robots oder bei Wearable Electronics offenstehen oder lauern. Ein anderes betrifft das verantwortungsbewusste Umgehen mit Big Data, das in Europa aufgrund des hier entstandenen Menschenbildes wohl anders gesehen wird als zum Beispiel in China. Deshalb wird es unumgänglich sein, vor allem im Mathematik- und im Philosophieunterricht das Wesen eines Algorithmus so weit zu erklären, dass ein Verständnis dafür bereit gestellt wird, was sich algorithmisch bewerkstelligen lässt und welche Grenzen zu ziehen sind, weil diese prinzipieller Natur sind. Ein eigenes Schulfach dafür einzurichten, ist aber nicht nötig, wäre sogar übertrieben.

So gesehen wird die „digitale Bildungsrevolution“ nur dann erfolgreich verlaufen, wenn der Umgang mit digitalen Medien weder als Selbstzweck, noch als alleiniges Ziel, sondern als angemessenes Mittel verstanden wird. Roberto Simanowski appellierte in diesem Sinne, die Köpfe vom „digitalen Smog“ zu reinigen. Am besten dadurch, dass man nicht blindlings auf „Modernisierung“ setzt, sondern auf das schlechthin Wertvolle. Das unabhängig davon, ob man es mit einem digitalen Kostüm umhüllt oder nicht, ewig besteht.