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Rudolf Taschner: Was kann und was soll Künstliche Intelligenz

Zur Sache

Der Mathematiker Rudolf Taschner ist berühmt für seine Art, Mathematik und Wissenschaften in Vorträgen und Büchern verständlich zu erklären. Jetzt befasst sich Taschner, Abgeordneter und Wissenschaftssprecher der ÖVP, aus aktuellen Anlass mit der Künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence): Bereits im Oktober startet in Österreich die AI-Factory, ein Supercomputer im KI-Ökosystem Europas.

 

Vorbemerkung: Vom Mailüfterl zur AI Factory

Österreich braucht einen kräftigen, nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung wie einen Bissen Brot. Ein möglicher Treiber dafür ist die in Wien im Oktober mit den ersten Dienstleistungen startende AI Factory, eine riesige Fabrik für Künstliche Intelligenz. Ab Jänner 2027 wird ein Supercomputer für unser Land betriebsbereit sein. Der Millionenaufwand seiner Kosten soll sich in Kürze durch einen vielfachen Gewinn lohnen. Doch der Steuerzahler will und soll auch wissen, was hinter diesem Aufwand steckt, welche Umwälzungen er hervorruft. Was kann, was soll Künstliche Intelligenz? Hierauf wird im Folgenden eine Antwort vorgelegt.

 

Ein Essay von Rudolf Taschner

Der Autor der nachfolgenden Zeilen bekennt offen ein, im Felde der Künstlichen Intelligenz Laie zu sein. Laie, weil er weder eine Ausbildung zum Informatiker absolvierte, noch, von zaghaften Versuchen abgesehen, Erfahrungen mit Systemen sammelte, die Künstliche Intelligenz beinhalten. Er erlaubt sich allein deshalb, Gedanken zu der im Titel gestellten Frage – notgedrungen vorläufig und unvollkommen – zu äußern, weil ihm als geschultem Zahlentheoretiker die Grundlagen der Digitalisierung bekannt sind, weil er sich intensiv sowohl mit Mathematik als auch mit Existenzphilosophie beschäftigte, zwei Denkrichtungen, die seiner Meinung nach bei dieser Thematik eine große Rolle spielen. Und vor allem, weil er frühe Pioniere digitaler Maschinen persönlich kennen und schätzen lernte: Heinz Zemanek, den Konstrukteur des „Mailüfterls“, des ersten Computers auf dem europäischen Festland, der vollständig mit Transistoren arbeitete, und Joseph Weizenbaum, dem mit seinem Programm ELIZA der erste aufsehenerregende Durchbruch der sogenannten Künstlichen Intelligenz gelang.

Heinz Zemanek (*1920 in Wien, †2014 ebenda), Computerpionier und Professor an der Technischen Hochschule Wien (Abb.1)

Heinz Zemanek (*1920 in Wien, †2014 ebenda), Computerpionier und Professor an der Technischen Hochschule Wien (Abb.1)

Joseph Weizenbaum (*1923 in Berlin, †2008 ebenda), Computerpionier und Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts (Abb. 3)

Joseph Weizenbaum (*1923 in Berlin, †2008 ebenda), Computerpionier und Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts (Abb. 3)

Der Computer ELIZA kommuniziert

ELIZA mimte mit den in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts noch sehr bescheiden zur Verfügung stehenden elektronische Bauteilen erstaunlich beeindruckend eine Psychiaterin. Die auf ELIZA zukommende Person, wir nennen sie Freddy, – man muss sich so vorstellen, dass Freddy auf einer Tastatur Fragen an ELIZA eintippte und auf einem Bildschirm ELIZAs Antworten las – kommunizierte mit ihr so, als ob sich in dem Gerät eine Psychiaterin aus Fleisch und Blut verbarg.

Die Versuchsperson Freddy "kommuniziert" mit dem Rechner ELIZA (Abb. 4)

Die Versuchsperson Freddy „kommuniziert“ mit dem Rechner ELIZA (Abb. 4)

Ein typischer Dialogausschnitt Freddys mit ELIZA lautete so:

ELIZA: Beunruhigt Sie etwas?

Freddy: Menschen sind doch alle gleich.

ELIZA: Worin, vermuten Sie, besteht der Zusammenhang?

Freddy: Sie nerven uns immer wegen irgendetwas.

ELIZA: Fällt Ihnen ein konkretes Beispiel ein?

Freddy: Nun, mein Freund hat mich dazu gebracht, hierher zu kommen.

ELIZA: Ist es wichtig für Sie, dass Ihr Freund Sie dazu gebracht hat, hierher zu kommen?

Freddy: Er hat gesagt, dass ich die meiste Zeit deprimiert bin.

ELIZA: Es tut mir leid zu hören, dass Sie depressiv sind.

Freddy: Ja, das stimmt. Ich bin unglücklich.

ELIZA: Können Sie erklären, was Sie unglücklich gemacht hat?

Verzeichnis psychischer Begriffe genügte

Weizenbaum entschied sich, ELIZA eine Psychiaterin mimen zu lassen, weil man einem Psychiater üblicherweise persönliche Seelenzustände mitteilt. Zu diesem Zweck speicherte Weizenbaum in das Programm ELIZA ein geeignetes, nicht allzu großes Wörterverzeichnis psychischer Begriffe. Sonst brauchte ELIZA nichts über die Welt zu „wissen“. Es lag somit bloß an den damals noch kargen Hilfsmitteln, die ELIZA darin einschränkten, über eine Psychiaterin hinaus wie ein Mensch zu wirken. Aber vom Prinzip her erfasste Joseph Weizenbaum bereits 1966 mit der Erschaffung von ELIZA vollumfänglich alles, was man heute Künstliche Intelligenz nennt.

 

Versuchspersonen fühlten sich gut behandelt

Was Weizenbaum regelrecht erschütterte, war das Verhalten der menschlichen Kommunikationspartner von ELIZA: Viele waren überzeugt, sich mit einem Wesen unterhalten zu haben, das nicht nur fachlich kompetent sei, sondern ihnen überdies Respekt und Einfühlsamkeit entgegenbrachte. Obwohl Weizenbaum sie aufzuklären versuchte, dass sie mit nichts anderem als mit einer seelenlosen Maschine kommunizierten, die nach Vorgaben weniger simpler Regeln funktioniert, beharrten die meisten dennoch darauf, ELIZA verstünde ihre Gefühle. Manche behaupteten sogar, ELIZA behandle sie besser als ein menschlicher Psychiater.

 

Macht der Computer, Ohnmacht der Vernunft

Für Joseph Weizenbaum war dies Anlass genug, das immer noch lesenswerte Buch mit dem Titel „Computer Power and Human Reason“ zu verfassen. Die deutsche Übersetzung trägt den drastischeren und treffenderen Titel „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“.

Damit ist im Kern zusammengefasst, was im Folgenden erörtert werden soll: Welch mannigfache Möglichkeiten und Risiken der Einsatz digitaler Systeme einerseits bereitstellt, so sehr, dass man von einer zweiten industriellen Revolution sprechen darf. Und welch gerechtfertigte Bedenken diesen Systemen andererseits entgegenzubringen ist.

 

Von der engen zur umfassenden Intelligenzmaschine

Was zeichnet die Künstliche Intelligenz von vor ihr verwendeten digitalen Systemen aus? Zugespitzt gefragt: Warum darf man ELIZA eine gleichsam embryonale künstliche Intelligenzmaschine nennen, Zemaneks Mailüfterl aber noch nicht?

Der von Heinz Zemanek gebaute "Binär dezimaler Volltransistor Rechenautomat", genannt "Mailüfterl" (Abb. 3)

Der von Heinz Zemanek gebaute „Binär dezimaler Volltransistor Rechenautomat“, genannt „Mailüfterl“ (Abb. 3)

Um mit dem Mailüfterl „kommunizieren“ zu können, muss man die Struktur dieser elektronischen Rechenmaschine kennen. In einer Maschinensprache erteilt man im Mailüfterl verdrahteten elektronischen Schaltungen direkte Anweisungen. Mit einem komplexen, allein von Ingenieuren des Mailüfterl verstandenen Programm gelang es Zemanek zum Beispiel, von der Zahl 5073548261 herauszufinden, dass sie Primzahl ist.

Um hingegen mit ELIZA „kommunizieren“ zu können, braucht man nichts über Schaltelemente und Verdrahtungen hinter ihrer Tastatur und ihrem Bildschirm zu wissen und keine Maschinensprache zu beherrschen. Auch keine der zur Zeit von ELIZAs „Geburt“ gängigen höheren Programmiersprachen wie COBOL, ALGOL oder FORTRAN. Nichts braucht man über ELIZAs „Innenleben“ zu wissen. ELIZA antwortet auf in Umgangssprache gestellte Fragen wie ein Psychiater. Und zwar, wenn man sich in seiner Umgangssprache darauf beschränkt, die eigene psychische Verfasstheit zu beschreiben, so gut, dass ernsthaft erwogen wurde, den Beruf des Psychiaters auf Maschinen wie ELIZA auszulagern.

In der heutigen, vom Englischen dominierten Sprache würde ELIZA der ANI zugeordnet werden, der Artificial Narrow Intelligence. Wir nennen in diesem Sinne ELIZA eine enge Intelligenzmaschine.

 

Intelligente Taschenrechner

Im Grunde ist jeder Taschenrechner eine, zugegeben extrem enge Intelligenzmaschine. Denn das Gerät ist so konzipiert, dass es nur rechnen zu können scheint. Im Standardmodus bewältigt es die gängigen Grundrechnungsarten und im wissenschaftlichen Modus zusätzlich Rechnungen mit Logarithmus, Exponentialfunktion, den trigonometrischen Funktionen und den Arcusfunktionen – dies aber besser, als es ein Mensch vermag. Zwar muss man als Nutzer keine Maschinensprache und auch keine höhere Programmiersprache beherrschen, wohl aber das „Vokabular“ und die „Grammatik“ des Rechnens. Und man muss sich in der „Kommunikation“ mit der Maschine auf diese „Sprache“ des Rechnens beschränken.

 

Man muss nur die Regeln kennen

So gesehen gehören auch Schachcomputer den engen Intelligenzmaschinen an. Sie sind derzeit so ausgefeilt, dass sie jeden Großmeister besiegen. Und wie bei den Beispielen vorher braucht man, um mit ihnen spielen zu können, nur die Regeln, gleichsam die „Sprache“ des Schachspiels zu kennen, aber keine Maschinen- oder Programmiersprache.

Für die nachfolgenden Erörterungen ist ferner die Feststellung bedeutsam: Genauso wenig, wie ELIZA menschliche Psychiater arbeitslos machte, vertilgte auch der Taschenrechner nicht das Bedürfnis, das kleine Ein-mal-Eins oder das Kopfrechnen zu beherrschen, und trotz der Schachcomputer spielen Menschen immer noch miteinander Schach.

 

Umfassende Intelligenzmaschine ist allgemein gebildet

Der am 26. Juli 2025 erschienene Economist widmete sich in seiner Titelgeschichte und in drei weiteren Artikeln der Tatsache, dass die mannigfachen Spielarten der Artificial Narrow Intelligence, der ANI und damit der engen Intelligenzmaschinen in die Artificial General Intelligence, in die AGI und damit in die umfassenden Intelligenzmaschinen münden, und dies für Wirtschaft und Gesellschaft Ungeheures bedeuten dürfte. Während eine enge Intelligenzmaschine nur in einem schmalen kognitiven Teilbereich wie ein Mensch, dort jedoch schneller und besser als ein Mensch agiert, und man mit der engen Intelligenzmaschine nur in der ihrem schmalen Teilbereich eigenen „Sprache“ kommunizieren kann, ist die umfassende Intelligenzmaschine gleichsam „allgemein gebildet“. Sie gestattet Kommunikation über verschiedenste Themen und dies in alltäglicher Umgangssprache.

 

Am Weg zur umfassenden Intelligenz

Ein Wesen, mit dem man in alltäglicher Umgangssprache kommuniziert, wird im allgemeinen dann intelligent genannt, wenn es sich in seinen Antworten, Gegenfragen und Reaktionen so verhält, dass man dieses Gebaren als angemessen, klug und sinnvoll empfindet. Hinzu kommt die Erwartung, dass ein umfassend intelligentes Wesen zusätzlich breites Wissen und einen reichen Schatz an Erfahrungen angesammelt hat. Die Digitalisierung ist nun, rund siebzig Jahre nach dem noch intelligenzbefreiten Mailüfterl und rund sechzig Jahre nach der nur in der Psychiatrie Intelligenz vortäuschenden ELIZA, so weit vorangeschritten, dass heutige digitale Systeme umfassend intelligente Wesen zu sein scheinen.

ChatGPT wurde am 30. November 2024 freigegeben. Innerhalb von fünf Tagen registrierten sich weltweit eine Million Nutzer (Abb. 5)

ChatGPT wurde am 30. November 2024 freigegeben. Innerhalb von fünf Tagen registrierten sich weltweit eine Million Nutzer (Abb. 5)

ChatGPT brachte den Durchbruch

Seit November 2022 ist das vom Unternehmen OpenAI vorgestellte digitale Dialogsystem ChatGPT als herausragendes Beispiel einer umfassenden Intelligenzmaschine in aller Munde. Man kommuniziert mit ChatGPT wie mit einem intelligenten Menschen über Themen jeglicher Art. Darüber hinaus vermag ChatGPT Texte verschiedensten Umfangs zu verfassen, im Stil eines Schulaufsatzes wie auch in dem einer wissenschaftlichen Abhandlung. Man kann ChatGPT ein Bild vom Inneren seines Kühlschranks zeigen und fragen, was damit am besten zu kochen sei, man kann ChatGPT einen langen Zeitschriftenartikel lesen lassen und um eine knappe Zusammenfassung bitten, auch Programme zu verschiedensten Zwecken in höheren Programmiersprachen wie FORTRAN ist ChatGPT befähigt zu verfassen – und all dies vermittelt bloß einen mickrigen Bruchteil der mannigfaltigen intellektuellen Fähigkeiten, die ChatGPT zu besitzen scheint.

Drei einfache Dialoge mit ChatGPT, die auf historische Beispiele zuvor Bezug nehmen, seien genannt:

Erstes Beispiel: Schach

Garri fragt: „Was war der Schachzug, den Deep Blue setzte, um das erste Mal gegen Kasparow zu gewinnen?“

ChatGPT antwortet: „Der entscheidende Zug, der Deep Blue zum Sieg gegen Garry Kasparow im ersten Match im Februar 1996 verhalf, war der sogenannte ‚Zug 44‘ in der letzten Partie. Dieser Zug war ‚Ne7+‘ (Springer nach e7 mit Schach).“

Danach erläutert ChatGPT noch ausführlich diese Antwort.

Garri fragt weiter: „Können Sie mich beim Schachspielen unterstützen?“

ChatGPT antwortet: „Natürlich! Ich helfe dir gerne beim Schachspielen. Ob du Tipps für Eröffnungen, Strategien, Taktiken oder konkrete Züge brauchst – ich stehe dir zur Seite. Möchtest du eine Partie spielen, eine bestimmte Stellung analysieren oder allgemeine Ratschläge zum Schachlernen erhalten? Sag mir einfach, wie ich dir am besten helfen kann!“

Die enge Intelligenzmaschine des Schachcomputers ist offensichtlich in der umfassenden Intelligenzmaschine ChatGPT enthalten. Am Rande angemerkt: ChatGPT duzt seinen menschlichen Gesprächspartner. Man mag dies als freundliche Geste deuten. Es könnte aber auch andeuten, dass ChatGPT meint, sein menschliches Gegenüber nicht ernst nehmen zu müssen. Kann der Mensch sich doch mit seiner bescheidenen Intelligenz nicht mit der umfassenden von ChatGPT messen …

Zweites Beispiel: Primzahlen

Heinz bittet: „Nennen Sie eine Primzahl, die größer als 5073548250 ist!“

ChatGPT antwortet: „Eine Primzahl, die größer als 5073548250 ist, lautet 5073548261. Du kannst das selbst überprüfen – sie ist durch keine kleinere Zahl außer 1 und sich selbst teilbar. Wenn du weitere brauchst, sag einfach Bescheid!“

Das Mailüfterl benötigte nach aufwendiger Programmierung sechs Stunden, um feststellen zu können, dass 5073548261 eine Primzahl ist. ChatGPT lieferte sekundenschnell die obige Antwort. Amüsant ist der darauffolgende Satz „Du kannst das selbst überprüfen“. Kein vernünftiger Mensch wird sich diese Überprüfung antun. Sie ist schlicht zu aufwendig und lohnt den Erkenntnisgewinn nicht. Eigenartig, dass ChatGPT das nicht „weiß“ …

Drittes Beispiel: ChatGPT als Psychiater

Freddy klagt: „Ich bin unglücklich. Was soll ich tun?“

ChatGPT antwortet: „Es tut mir leid zu hören, dass du dich unglücklich fühlst. Das ist eine ganz normale Erfahrung, die jeder Mensch manchmal durchmacht. Es kann hilfreich sein, mit jemandem darüber zu sprechen, dem du vertraust, sei es ein Freund, Familienmitglied oder ein Therapeut. Manchmal hilft es auch, kleine Dinge zu tun, die dir Freude bereiten, wie einen Spaziergang, Musik hören oder eine kreative Aktivität. Wichtig ist, dir selbst Zeit zu geben und geduldig mit dir zu sein. Wenn du das Gefühl hast, dass deine Traurigkeit länger anhält oder sehr stark ist, zögere nicht, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Du bist nicht allein, und es gibt Wege, um wieder mehr Glück und Balance zu finden.“

Eine im Vergleich zu ELIZAs kargen Einzeilern geradezu wortgewaltige Antwort! Ein wenig skeptisch stimmt sie dennoch: Wortreich rät ChatGPT Freddy dazu, sich mit seinen Problemen an Verwandte, Freunde oder professionelle Therapeuten zu wenden. Aber sich selbst bietet ChatGPT als hilfreichen Gesprächspartner nicht an. Anscheinend ist dieses Misstrauen zu sich selber berechtigt …

Wobei zu bedenken ist: ChatGPT entwickelt sich ständig weiter. Die Antworten, die es beim Verfassen dieses Textes gab, können schon in kürzester Zeit durch andere ersetzt werden, bei denen die hier leise geäußerte Kritik nicht mehr zutrifft.

Dennoch sei noch auf eine Äußerung von ChatGPT hingewiesen, die stutzig macht: Auf Freddys Seufzer, er fühle sich unglücklich, reagiert ChatGPT im ersten Satz mit: „Es tut mir leid zu hören, dass du dich unglücklich fühlst.“

Das ist eine dreiste Lüge.

 

Wenn die Maschine lügt

Auch ELIZA sprach nicht die Wahrheit, als sie schrieb: „Es tut mir leid zu hören, dass Sie depressiv sind.“ Aber ELIZAs „Vater“ Joseph Weizenbaum bemühte sich, nachdem er in spielerischer Absicht ELIZA solche Flunkereien beigebracht hatte, während seines ganzen weiteren Lebens zu betonen und zu versichern: ELIZA vermag nicht mehr, als Illusionen zu wecken. Die Erfinder und Betreiber der heutigen umfassenden Intelligenzmaschinen wie ChatGPT wollen hingegen vergessen machen, dass es sich allemal um Illusionsmaschinen handelt. Wir kommen darauf am Ende des Textes zu sprechen. Zuvor aber seien noch einige lose Gedanken zu den Auswirkungen der Erfindung umfassender Intelligenzmaschinen vorgelegt.

 

Eine zweite industrielle Revolution

In den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts warb IBM, der damals dominierende Ozeanriese auf dem sich zu einem scheinbar unerreichbaren Horizont erstreckenden Meer der Digitalisierung, mit einem witzig gestalteten Inserat: Im Bild lugte eine missmutig blickende Trafikantin aus ihrem kümmerlichen Zeitungskiosk, vom Blätterwald der Gazetten und Magazine umkränzt, und darunter stand der Werbetext: „Nur noch wenige Unternehmen sind zu klein, um sich einen IBM-Computer leisten zu können.“

Heute hat auch diese Verkäuferin einen Computer. Es wird zwar keiner von IBM sein, eher ein Smartphone, das aber in seiner Wendigkeit und seinem Vermögen die damals zu erheblich höheren Preisen erhältlichen IBM-Computer um ein Vielfaches übertrifft.

Hingegen handelt die Verkäuferin nicht mehr mit Zeitungen und Magazinen, weil sie befürchtet, dass sich das Geschäft damit nicht mehr rentiert. All dies kann man doch online beziehen, sie selbst auf ihrem Smartphone. Gut denkbar, dass sie sich entschloss, ihren Kiosk aufzurüsten und in eine Verkaufs- und Reparaturannahmestelle für Smartphones zu verwandeln.

Die im Abschnitt zuvor erwähnten Artikel des Economist vom 26. Juli sollte man ähnlich lesen wie das Inserat der IBM aus den Siebzigerjahren: Zweifellos bedeutet die Digitalisierung eine Zeitenwende. Die Richtung, in die von den technischen Neuerungen markierten Wege führen, lässt sich ungefähr erahnen. Aber wie sich die von der Künstlichen Intelligenz geprägte Zukunft tatsächlich gestalten wird, bleibt ungewiss. Die vom Economist befragten Experten antworten teils euphorisch, teils gedämpft optimistisch.

 

Industrielle Revolution bedeutet enormes Wachstum

Es mag hilfreich sein, die gegenwärtige, von der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz vorangetriebene zweite industrielle Revolution mit jener ersten industriellen Revolution zu vergleichen, die im Sinnbild der Dampfmaschine und des Verbrennungsmotors von der Mechanik und der Thermodynamik und die im Sinnbild des Elektromotors sowie der Kunststoffe und des Düngers von der Elektrotechnik und der Chemie in Gang gesetzt wurde.

Die erste industrielle Revolution führte zu einer Epoche, in der die Arbeit einen Bedeutungswandel erfuhr und in der Voraussetzungen dafür entstanden, dass mehr Menschen ein längeres und besseres Leben führen konnten als selbst die ganz wenigen Privilegierten der Herrscherdynastien, des hohen Adels und des hohen Klerus zuvor. Die sich aus der ersten industriellen Revolution ergebenden Produktionsweisen änderten sowohl die Arbeit von Landwirten und Handwerkern, sie öffneten darüber hinaus neue Arbeitsfelder, weil die neuen Geräte und Maschinen bedient werden mussten, und es entstand in der Folge ein riesiges Feld von Dienstleistungen, die zu erbringen waren. Dazu kam, dass die Fortschritte in Hygiene und Medizin zusammen mit besseren Lebensbedingungen zwar nicht für alle, aber für eine große Bevölkerungsgruppe, zu einem bemerkenswerten Anstieg der Bevölkerung führte. Ein damit einhergehendes Wachsen der Bedürfnisse bewirkte eine markante Zunahme des BIP, des Bruttoinlandsprodukts. So schätzte der britische Ökonom Angus Maddison, dass das BIP Österreichs zwischen 1600 und 1700, also vor der ersten industriellen Revolution, um 18,6 Prozent, nach der ersten industriellen Revolution zwischen 1820 und 1913 aber um 471,4 Prozent und zwischen 1913 und 2007 gar um 744,3 Prozent zunahm. Für Westeuropa lauten die entsprechenden Prozentzahlen in den gleichen genannten Zeitspannen ähnlich: 23,8 vor der ersten industriellen Revolution, danach aber 464,4 und dann 864,1.

Einige vom Economist befragte Ökonomen sagen für die nun kommenden rund 100 Jahre ein Wachstum des BIP voraus, das nicht wie zufolge der ersten industriellen Revolution mehrere hundert Prozent, sondern zufolge der zweiten industriellen Revolution mehrere tausend, ja sogar mehrere zehntausend Prozent betragen werde.

Josef „Sepp“ Hochreiter (*1967 in Mühldorf am Inn), Informatiker und Professor an der Johannes Kepler Universität Linz, Leiter des dortigen Institute for Machine Learning und des Labors für Artificial Intelligence (Abb. 7)

Josef „Sepp“ Hochreiter (*1967 in Mühldorf am Inn), Informatiker und Professor an der Johannes Kepler Universität Linz, Leiter des dortigen Institute for Machine Learning und des Labors für Artificial Intelligence (Abb. 7)

Tiefgreifende Änderung der Arbeitswelt

Was dafür spricht, ist die offenkundige Änderung der Arbeitswelten, welche die zweite industrielle Revolution mit sich bringen wird. Büroarbeit, vor allem jene, bei der es sich vornehmlich um Routine handelt, kann von umfassenden Intelligenzmaschinen übernommen werden. Intelligenzmaschinen, in Fahrzeuge eingebaut, sollen sogenanntes autonomes Fahren ermöglichen; partiell ist es bereits erfolgreich entwickelt. Intelligenzmaschinen, mit entsprechenden mechanischen, thermischen, chemischen oder elektrischen Geräten verknüpft, verwandeln sich zu Automaten, die Dienstleistungen erbringen oder Güter herstellen, und all dies weitaus vielfältiger und wirksamer, als man es sich bei den derzeit gängigen Maschinen vorstellen mag.

Unglaubliches wird versprochen

In welchem Ausmaß menschliche Arbeitskraft auf die Intelligenzmaschinen übertragen wird, ist nicht leicht vorherzusagen. Schier Unglaubliches wird zuweilen versprochen. Bedenkenträger stellen die Frage: Wird es noch Lastwagenfahrer, Lokomotivführer, Taxichauffeure, Piloten geben, werden Friseure, Chirurgen, Installateure, Tischler arbeitslos? Und da die umfassenden Intelligenzmaschinen scheinbar allen Lebenslagen gewachsen sind, macht diese Frage weder vor den Anwälten, Richtern und Notaren, noch vor den Kindergärtnern, Lehrern und Trainern, noch vor den Verkäufern, Gastwirten, Hoteliers, noch vor den Managern, Börsenmaklern, Steuerberatern, sie macht scheinbar vor keinem Berufsstand – egal ob noch jetzt oder in früheren Zeiten von Mann oder Frau ausgeübt – halt.

Eine Schreckensvision

Selbstverständlich ist mit dieser Frage eine Dystopie, eine Schreckensvision verbunden. Ähnlich wie das Schlaraffenland des Pieter Bruegel des Älteren bei näherer Betrachtung ein Inferno ist, bedeutete die Auslagerung aller Arbeit vom Menschen auf Maschinen nur auf kurze Sicht das Paradies grenzenloser Freizeit, auf lange Sicht aber die Hölle.

Pieter Brueghel d. Ä.: Das Schlaraffenland (Abb. 6)

Pieter Brueghel d. Ä.: Das Schlaraffenland (Abb. 6)

Arbeit wird effizienter erledigt

Gottlob ist nicht zu befürchten, dass umfassende Intelligenzmaschinen uns alle arbeitslos machen und entmündigen. Doch Änderungen sind auch bei realistischer Sichtweise zu erwarten. Sepp Hochreiter, weltweit bewunderter Forscher und brillanter Pionier im Bereich der Künstlichen Intelligenz, entwirft in seinem höchst lesenswerten Buch „Was kann Künstliche Intelligenz?“ tatsächlich zu erwartende Szenarien. Ein bezeichnendes sei zitiert. Es betrifft die Landwirtschaft:

„Hier werden bereits heute autonome Mähdrescher und Erntemaschinen eingesetzt, um große Gebiete abzuernten. In den USA gibt es sogar Mähdrescher ohne Führerhaus, die ferngesteuert über riesige Felder fahren, oder Drohnen, die Äpfel oder Birnen pflücken. Solche Technologien machen die Arbeit effizienter und präziser.

Das Symbolbild stellt einen fiktiven Roboter als Tomatenpflücker vor; tatsächlich sind mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Erntegeräte den natürlichen Gegebenheiten besser angepasst. (Abb. 8)

Das Symbolbild stellt einen fiktiven Roboter als Tomatenpflücker vor; tatsächlich sind mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Erntegeräte den natürlichen Gegebenheiten besser angepasst. (Abb. 8)

Drohnen überprüfen Äcker …

Mit Drohnen können auch Felder überwacht werden, um festzustellen, wo Dünger oder Schädlingsbekämpfungsmittel benötigt werden. Statt pauschal das ganze Feld zu behandeln, wird gezielt dort eingegriffen, wo es nötig ist. Das spart Ressourcen und schont die Umwelt. Unternehmen wie Bayer arbeiten bereits an solchen Technologien, die ein enormes Potential haben.“

… doch  die Expertise der Bauern bleibt bedeutsam

Und nach Erwähnung eines Beispiels aus dem Weinbau heißt es abschließend:

„Ein Aspekt, der hierbei allerdings häufig übersehen wird, ist die kulturelle Bedeutung der Landwirtschaft. Viele Menschen verbinden mit der bäuerlichen Arbeit ein Stück Tradition und Identität. Die Vorstellung, dass der Bauer der Zukunft nur noch am Computer sitzt, ist für manche schwer zu akzeptieren. Dennoch bleibt der Kern der Arbeit bestehen: Entscheidungen müssen weiterhin von Menschen getroffen werden, selbst wenn Künstliche Intelligenz die Analyse und Datenerhebung übernimmt. Ob ein Bauer über ein Feld läuft oder mit einer Drohne Bilder betrachtet, ändert nichts an seiner Expertise.“

 

Zukunft liegt in Zusammenarbeit von Mensch und Maschine

Neben der Landwirtschaft gibt es eine Unzahl weiterer ähnlicher Beispiele in Technik und Industrie, in Handel und Verkehr, in Schulen und Forschungsstätten, im Sicherheits- und Dienstleistungsbereich, in Tourismus, in der Architektur und, und, und – die Zahl der Anwendungsbereiche ist Legion. Und für alle gilt Sepp Hochreiters Wort: „Die Zukunft liegt in der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Künstliche Intelligenz kann komplexe Berechnungen und Analysen durchführen, während Menschen Empathie, Ethik, Risikoabschätzungen und das gesellschaftliche Urteilsvermögen beisteuern, um diese Ergebnisse in sinnvolle Handlungen umzusetzen. Das menschliche Element bleibt aus meiner Sicht unersetzlich.“

 

Skepsis ist angebracht

Deshalb ist gehörige Skepsis angebracht, ob die zweite industrielle Revolution tatsächlich das Bruttoinlandsprodukt noch stärker beflügeln wird, als dies bei der ersten industriellen Revolution der Fall war. Mit großer Sicherheit wird es steigen, doch es gibt zumindest zwei Argumente dafür, dass dieser Anstieg nicht explosiv erfolgen dürfte:

Sättigung – Bevölkerung wächst nicht mehr

Zum einen ging, es wurde bereits erwähnt, mit der ersten industriellen Revolution in den Industrieländern ein starkes Wachstum der Bevölkerung einher. Die sich daraus ergebende Zunahme von Bedürfnissen, zumal der Wohlstand breiter Schichten der Bevölkerung stieg, kurbelte die Wirtschaft an. Derzeit aber ist für die nächsten Jahrzehnte in den hochentwickelten Ländern eher ein Rückgang denn ein Wachstum der einheimischen Bevölkerung zu erwarten, selbst weltweit dürfte sich die Bevölkerungszahl einer Sättigung nähern, von einer schwachen Abnahme gefolgt. Dies könnte die durch die zweite industrielle Revolution beschleunigte Wirtschaft bremsen.

Maschinen entwerten Waren und Dienste

Zum anderen droht ein Werteverfall der von Intelligenzmaschinen hergestellten Waren, seien sie materieller oder geistiger Natur. An einem simplen Beispiel erläutert: Engagiert eine Gastgeberin für ihre Soirée einen Pianisten, der mit Hintergrundmusik unterhalten soll, muss sie ihn für den langen Abend fürstlich entlohnen. Wenn sie aber vor Eintreffen der Gäste in eine mit ChatGPT ausgestattete elektronische Musikanlage die Worte spricht: „Unterhalte mich sechs Stunden lang mit Walzern von Schubert, Chopin und Strauß!“, kostet sie dies praktisch nichts. Die Musikanlage, könnte man noch entgegnen, aber diese ist sicher billiger als der dem Pianisten zur Verfügung gestellte Bösendorferflügel.

Nichts, was etwas wert ist, ist einfach zu erreichen, sagte einst Theodor Roosevelt. Wenn Produkte, die Intelligenzmaschinen herstellen, gleichsam bloß auf Knopfdruck gewonnen werden, sie somit mühelos in beliebig großer Menge angeboten werden können, fehlt die Begründung, einen hohen Preis für sie zu zahlen.

Das Symbolbild stellt den fiktiven Angriff einer Kampfdrohne über einer Großstadt dar; tatsächlich kann Künstliche Intelligenz auch nicht so martialisch schlimmstes Unheil anrichten. (Abb. 9)

Das Symbolbild stellt den fiktiven Angriff einer Kampfdrohne über einer Großstadt dar; tatsächlich kann Künstliche Intelligenz auch nicht so martialisch schlimmstes Unheil anrichten. (Abb. 9)

Ein echter Profiteur: die Waffenindustrie

Eine letzte Anmerkung betrifft einen Industriebereich, der mit großer Sicherheit von Intelligenzmaschinen profitieren wird, und dies sei mit weinendem Auge und klagender Stimme gesagt: die Waffenindustrie. Es steht zu befürchten, dass künftige Kriege – die derzeit geführten Konflikte geben einen düsteren Vorgeschmack – mit von Intelligenzmaschinen gelenkten Waffen ausgetragen werden. Nur auf den ersten Blick scheint dies von Vorteil zu sein, wird doch scheinbar das Leben von Soldaten geschont und erhält, gleichsam wie in einem mittelalterlichen Ritterturnier damals der am besten gerüstete Kämpfer mit den härtesten Waffen und dem wagemutigsten Pferd, in Zukunft der wissenschaftlich und technisch am fortschrittlichsten gerüstete Staat den Lorbeerkranz des Sieges. Doch es ist eine Illusion, Kriege würden in Zukunft bloß auf einem eingegrenzten Schlachtfeld stattfinden, auf dem gegnerische Roboter einander bekämpfen. Tatsächlich werden Kriegsparteien das Ziel verfolgen, den gegnerischen Staat als Ganzes zu vernichten: seine Infrastruktur zu zerstören, sein Land zu verwüsten, seine Bevölkerung zu knechten, über alles im Staat Tod und Verderben zu bringen. Wenn Intelligenzmaschinen, seien es bis auf die Zähne bewaffnete Drohnen, seien es autonom voranstürmende Panzer, für die Apokalypse gerüstet werden, braucht man in der Tat für Himmelfahrtkommandos kaum noch Soldaten – aber Gräuel und Schrecken von Kriegen stiegen ins Unermessliche.

 

Entmythologisierung und Gigantomanie

Dem Wort Künstliche Intelligenz umgibt die Aura eines Zaubers. Worauf sie gründet, ist wenigen bewusst. Zwar ist es Allgemeingut, dass sie auf der Digitalisierung fußt, doch auch dieses Wort hat einen rätselhaften Klang.

Blickt man hinter den Schleier, sieht man die beiden Bausteine der Digitalisierung: die Binärziffern, abgekürzt Bits, O und I. Unfassbar lange aus diesen beiden Bits bestehende Ketten befinden sich in digitalen Geräten. Nichts anderes. So symbolisieren zum Beispiel die Ketten

I,

IO, II,

IOO, IOI, IIO, III,

IOOO, IOOI, IOIO, IOII, IIOO, IIOI, …

die uns geläufigen Zahlen

1,

2, 3,

4, 5, 6, 7,

8, 9, 10, 11, 12, 13, … .

In dieser Aufzählung der Zahlen kommt jede irgend denkbare, mit I beginnende Kette von Bits als Symbol einer Zahl vor.

Der Einsatz von Bits

Ketten von Bits können aber auch anderes symbolisieren. Buchstaben und Satzzeichen zum Beispiel. Und Ketten von Ketten, die für Buchstaben oder Satzzeichen stehen, versinnbildlichen einen Text. Ketten von Bits können auch ein Pixel, also ein fast punktförmig kleines Quadrat auf einer mit diesen Quadraten gerasterten Zeichenfläche symbolisieren, wobei dieses Quadrat ein von der Kette der Bits definierten Grauwert zwischen schneeweiß und pechschwarz besitzt. Und eine Kette, welche die Pixel dieses Rasters aufzählt, ergibt ein schwarz-weißes Bild auf der Zeichenfläche, zum Beispiel ein Porträt von John von Neumann, dem Erfinder des ersten brauchbar funktionierenden Computers – bezeichnenderweise verwendet zur Herstellung von Atomwaffen.

John von Neumann: Mathematiker und einer der Begründer der Informatik. Der rechts vergrößerte Ausschnitt vom linken Auge zeigt, wie sich das schwarz-weiße Portrait aus einem Raster von Quadraten mit verschiedenen Grautönen zusammensetzt. (Abb. 10)

John von Neumann: Mathematiker und einer der Begründer der Informatik. Der rechts vergrößerte Ausschnitt vom linken Auge zeigt, wie sich das schwarz-weiße Portrait aus einem Raster von Quadraten mit verschiedenen Grautönen zusammensetzt. (Abb. 10)

Komplexer gestaltete Ketten von Bits stehen für farbige Bilder. Andere für hohe oder tiefe, laute oder leise, anschwellende, verklingende oder vibrierende Töne eines Musikinstruments, wieder andere für die Bewegungsform eines Roboterarms – die Vielfalt der Simulationen von Aspekten der Wirklichkeit ist schier grenzenlos – doch nur dann, wenn sich diese Aspekte so exakt fassen lassen, dass man sie mit Zahlen zu beschreiben vermag.

Rechenverfahren folgen Regeln

Die wichtigsten Beispiele, wofür aufwendig konstruierte Ketten von Bits stehen, aber sind sogenannte Algorithmen. Algorithmus ist ein Kunstwort, gebildet aus Al Chwarizmi, dem Namen eines zur Zeit Karls des Großen in Bagdad wirkenden Mathematikers und Astronomen. Ein Algorithmus ist ein Rechenverfahren, das einem Regelwerk folgend aus einer vorgelegten Kette von Bits eine weitere Kette von Bits erzeugt. Und jeder Algorithmus kann seinerseits selbst von einer Kette von Bits symbolisiert werden.

Wie Algorithmen wirken

Ein besonders einfacher Algorithmus ordnet zum Beispiel jeder Zahl ihr Quadrat zu, also jenen Wert, der sich durch Multiplizieren der vorgelegten Zahl mit sich selbst ergibt. So ordnet der Algorithmus der Zahl 7 den Wert 49, oder der Zahl 12 den Wert 144 zu. Wie sich dieser Algorithmus als Kette von Bits in einem Computer präsentiert, soll hier nicht interessieren. Man müsste zu dem Zweck über die Architektur des Computers in allen Einzelheiten Bescheid wissen, und es läge dann ohnehin nur eine immens lange und dem Betrachter völlig nichtssagende Kette von scheinbar wirr aufeinanderfolgenden Bits O und I vor. Viel wichtiger ist zu wissen, dass nach Eingabe einer Zahl in einen Taschenrechner beim Drücken der Taste, auf der ein kursives x mit einer kleinen hochgestellten 2 graviert ist, der eben beschriebene Algorithmus in Gang gesetzt wird und fast augenblicklich das Quadrat der eingegebenen Zahl am Display aufleuchtet.

Woher hat ChatGPT das Wissen?

Programmieren bedeutet nichts anderes, als Algorithmen zu entwickeln und ein digitales Gerät damit zu füttern. So programmierten zum Beispiel Heinz Zemanek und seine Mitarbeiter das Mailüfterl mit einem Algorithmus, der nach Betätigung der Starttaste des Geräts und stundenlanger interner Vertauschung von O-I-Ketten in andere solche Ketten das Ergebnis 5073548261 lieferte. Und Zemanek wusste aufgrund der Bauart seines Algorithmus, dass es sich hierbei um eine Primzahl handelt.

Wie aber, so stellt sich die naheliegende Frage, „weiß“ ChatGPT, dass 5073548261 eine Primzahl ist, ohne dass der Fragesteller ChatGPT programmierte? Man braucht ja vom Programmieren nicht die geringste Ahnung zu haben, und kann ChatGPT trotzdem erfolgreich nutzen. Wie ist dies möglich?

Dies seriös beantworten zu wollen, sprengte den Umfang dieses Essays. Doch eine äußerst vage Andeutung einer Antwort soll gegeben werden:

 

So werden Maschinen trainiert

Man stelle sich vor, ein KASPAR genanntes digitales Gerät wird mit Zahlen gefüttert. „Hört“ KASPAR eine Zahl, nennt auch er eine Zahl und bekommt als Reaktion O, oder OO, oder OOO, oder eine noch längere Kette von lauter Os, weil die von KASPAR genannte Zahl vom Quadrat der Zahl, die er „hörte“, ein wenig, oder weit, oder sehr weit entfernt ist – je länger die O-Kette ist, umso schlimmer hat sich KASPAR verschätzt. Oder aber KASPAR bekommt als Reaktion I, wenn er, zufällig oder wie auch immer, das Quadrat der von ihm „gehörten“ Zahl nennt. Erst nach der Reaktion I darf KASPAR eine neue Zahl „hören“, und das Spiel geht von vorne los.

Viele Runde sind erforderlich

Betrachten wir ein Beispiel: KASPAR „hört“ 7. Er antwortet mit 8 – Reaktion: OOO. Er antwortet mit 100 – Reaktion: OOO. Er antwortet mit 50 – Reaktion: O. Er antwortet mit 40 – Reaktion: OO. Er antwortet mit 47 – Reaktion: O. Er antwortet mit 49 – Reaktion I. Und nun darf KASPAR als „Belohnung“ eine neue Zahl „hören“: 12. Nach einer Fülle von Antworten mit lauter O-Ketten als Reaktion antwortet er endlich mit 144 mit I als Reaktion, und in einer dritten Runde wird KASPAR eine neue Zahl „gesagt“.

Verdrahten sind die Neuronen

Dieses reichlich skurrile Spiel soll andeuten, wie man KASPAR trainiert, einer vorgegebenen Zahl deren Quadrat zuzuordnen. Sind die Verdrahtungen in KASPARs Innerem, bildhaft gesprochen: sind die „Neuronen“ seines „Gehirns“, hinreichend raffiniert gestaltet, mag man tatsächlich nach mühsam vielen Trainingsstunden KASPAR so weit bringen, dass er beim „Hören“ einer beliebigen Zahl, zum Beispiel 17, sofort deren Quadrat, in unserem Beispiel 289, nennt.

Das Ergebnis zählt

KASPAR hat sich mit dem „neuronalen Netz“ seines „Gehirns“ aufgrund des aufwendigen Trainings mit unzähligen Beispielen selbst einen Algorithmus geschaffen, der jeder Zahl ihr Quadrat zuordnet. Wie dieser Algorithmus aussieht, weiß niemand. Es könnte sein, dass er von 7 auf 49, von 12 auf 144, von 17 auf 289 kommt, weil er 7, 12 und 17 mit sich selbst multipliziert. Es könnte auch sein, dass er die Summe der ersten 7, der ersten 12 und der ersten 17 ungeraden Zahlen berechnet. Vielleicht geht KASPAR auch ganz anders vor. Es interessiert uns nicht. Allein das immer richtige Ergebnis zählt.

Der Rechner legt sich Algorithmus zurecht

Das Beispiel ist auch deshalb extrem weltfremd, weil niemand ohnehin bekannte Algorithmen, zu Quadratzahlen zu gelangen, durch ein ödes Trainingsprogramm ersetzen wird, noch dazu mit ungewissem Ausgang, ob es durchwegs das Gewünschte liefert. Ein realistischeres Szenario ist es, KASPAR Bilder von Äpfel und von Birnen zu zeigen. KASPAR „sieht“ die Bilder, weil er ein feines Raster darüber legt und den Grau- bzw. Farbwert jedes der Pixel in Ketten von Bits verwandelt. Nach einem elend langen Training mit Abertausenden Bildern hat KASPAR „gelernt“ – in Wahrheit: sich einen internen Algorithmus zurechtgelegt – und kann Äpfel von Birnen unterscheiden.

Myriadenfache Trainingsstunden sind erforderlich, um aus KASPAR ein Wesen zu formen, das ChatGPT ähnlich wird. Doch mehr als dies ist nicht dahinter. ChatGPT wurde darauf trainiert, Muster verschiedenster Art in Ketten von Bits zu verwandeln und diese algorithmisch zu verarbeiten. All dies allein auf Basis von O-I-Ketten.

Ein zu ChatGPT trainierter KASPAR hat bloß Unmengen von Bits in seinem Inneren, nichts anderes als Ketten bestehend aus Binärziffern O und I, aber keine Gedanken, keine Gefühle. Von Wissen gar von Gewissen findet sich in KASPAR nicht die geringste Spur.

Auf der einen Seite klafft zwischen KASPAR und dem historischen Kaspar Hauser ein unüberbrückbarer Abgrund.

 

Intelligenzmaschinen umfassend trainiert

Auf der anderen Seite sind, was Erkennen, Analysieren und algorithmisches Hantieren von Mustern anlangt, die derzeit vorhandenen digitalen Systeme unfassbar exzellent trainiert. Dabei ist der Begriff Muster weit gespannt und reicht von Ziffernkombinationen über Texte und Bilder bis hin zu Klängen und Bewegungen. Intelligenzmaschinen vermögen zum Beispiel die Auswertung von Bildern, die von Röntgen-, Sonographie-, Magnetresonanz- oder Computertomographieaufnahmen stammen, zu verbessern und zu beschleunigen. Dies deshalb, weil die Intelligenzmaschinen an unüberschaubar vielen Bildern dieser Art trainiert wurden und sich aufgrund dieses gigantisch umfassenden Trainings scheinbar einen diagnostischen Blick aneigneten, der dem des Menschen um Größenordnungen überlegen ist. Und weil die Abfolge der Trainingsschritte von der Lichtgeschwindigkeit bestimmt wird – in einer Tausendstel Sekunde gelangt ein Lichtblitz von Salzburg nach Wien -, dauert selbst ein intensives Training mit Abermillionen Bildern nur kurze Zeit.

 

Die Erwartungen an Maschinen steigen

Doch die Erwartungen der industrialisierten Gesellschaft an noch bessere Leistungen der Intelligenzmaschinen wachsen ungebremst. Die Forschung in Künstlicher Intelligenz ist daher gefordert. Einerseits gilt es, die Strukturen der „neuronalen Netze“ in den „Gehirnen“ der digitalen Systeme stetig zu verbessern. Andererseits ist das Training auszuweiten, und dazu benötigt man eine riesige und geordnet aufgegliederte Sammlung von Daten, auf O-I-Ketten heruntergebrochene Informationen von der Außenwelt, als Trainingsmaterial, anhand dessen die digitalen Systeme „lernen“. In großen sogenannten AI Factories, ins Deutsche übersetzt: Fabriken für Künstliche Intelligenz, sind die Sammlungen der Daten mehr als riesig. Sie sind gigantisch. Sie gemahnen an die legendäre Bibliothek von Babel des Jorge Luis Borges. Und auch der Bedarf an elektrischer Energie ist gewaltig.

 

Marc Zuckerberg plant Rechenzentrum

So plant Mark Zuckerberg, der Chef des Unternehmens Meta, ein Rechenzentrum, das die Fläche von Manhattan ausfüllen soll. Er will damit die Spitze im Wettlauf um Künstliche Intelligenz erringen, jedenfalls die Konkurrenten Google und OpenAI überholen.

Es ist der gleiche Mark Zuckerberg, der an seinem linken Handgelenk wertvolle Armbanduhren trägt. Keine Digitaluhren, keine Smartwatches, sondern Uhren aus feinster Handarbeit. Uhren, welche die Aura des Menschlichen umgibt. So zum Beispiel die Referenz 5236P-010 von Patek Philippe aus Platin mit ewigem Kalender und lachsfarbenem Zifferblatt. Anscheinend gibt es eine Welt außerhalb der Bits O und I, und diese dürfte wertvoller als die digitale sein, selbst wenn deren Produkte aus einer gigantischen AI Factory stammen.

 

Digitale Systeme und die Conditio humana

Es mag nicht nur der hohe Wert einer von menschlicher Hand präzise gefertigten Armbanduhr sein, der Mark Zuckerbergs Sammelinteresse dafür erklärt. Die digitale Uhr ist ja, obwohl sie mit Sicherheit die Zeit genauer anzeigt, im Vergleich dazu nichts wert. Gefällt sie nicht mehr, wirft man sie weg. Mark Zuckerbergs Spleen für wertvolle handgefertigte Uhren mag auch der Erkenntnis entspringen, dass diese dem Wesen der Zeit unvergleichlich näher stehen als Digitaluhren.

Zum Wesen der Zeit

Was ist damit gemeint? Was ist das Wesen der Zeit? Tatsächlich gelingt es nicht, Zeit exakt zu definieren. Trotzdem durchdringt sie unerbittlich unser Dasein. Wir empfinden sie, wenn der Blick dem langen Pendel folgt, das gemächlich hin und her schwingt. Wir empfinden sie, wenn wir die Turmuhr hören und die Schläge zählen. Wie empfinden sie, wenn der Duft des geliebten Menschen, der uns verlässt, entschwindet. Die Uhr, gefertigt von der präzisen Hand des sterblichen Menschen, ist gleichsam das materialisierte Echo dieses Empfindens. Doch weil sich Zeit nicht exakt definieren lässt, misslingt es, sie in Ketten von Bits zu pressen. Die digitale Uhr zeigt die Zeit bloß an, hat aber mit ihr nichts gemein.

Künstliche Intelligenz – ein falscher Begriff

Ähnlich ist es mit der Intelligenz bestellt: Auch für sie gibt es nur vage Umschreibungen, keine exakte Definition. Selbst Intelligenztests messen sie nicht, sie messen allein die Leistungen beim Lösen der gestellten Aufgaben. Man mag Rückschlüsse auf die Intelligenz ziehen, doch diese sind mit großen Unsicherheiten behaftet. Jedenfalls ist Intelligenz damit verbunden, denken zu können. Intelligenzmaschinen aber denken nicht. Keine Kette von Bits, kein Algorithmus veranlassen sie dazu. Darum ist es eigentlich falsch, von Künstlicher Intelligenz zu sprechen. Man sollte sie genauer simulierte Intelligenz nennen. Intelligenzmaschinen sind zugleich Illusionsmaschinen.

Nur Denken schafft Bewusstsein

Und es irrt, wer meint, Informatiker hätten mit umfassenden Intelligenzmaschinen Wesen geschaffen, die Bewusstsein besitzen. Das schöne Wort Bewusstsein wurde vom Leibniz-Schüler Christian Wolff erfunden, weil er, was das gleichbedeutende Wort Seele meint, vom Bezug zur Religion lösen wollte. Bewusstsein zu besitzen, ist die fundamentale Erfahrung des denkenden Menschen. „Dubito, ergo existo“, sagt uns Augustinus, und mehr als tausend Jahre später wiederholt ihn Descartes mit dem Ausspruch „Je pense, donc je suis“, „Ich denke, also bin ich“. Die Erkenntnis seines bewussten Daseins war für Descartes das „Fundamentum inconcussum“, die unerschütterliche Grundlage allen weiteren Denkens. Da aber Intelligenzmaschinen nicht denken, fehlt ihnen jegliches Bewusstsein. Sie sind seelenlos, geistlos, kennen weder Schmerz noch Freude, träumen nicht, fabulieren nur scheinbar und sind, auch wenn sie zu witzeln vorgeben, erschütternd humorlos.

Dies deshalb, weil, wie der Begriff der Zeit keine exakte Definition besitzt, sich auch die Begriffe Humor, Phantasie, Traum, Freude, Leid, Esprit und Seele nie und nimmer exakt definieren lassen. Intelligenzmaschinen äffen bloß geistlos nach.

Die von Hand geschaffene mechanische Uhr umgibt eine Aura, in der sich dem aufmerksamen Betrachter das Wesen der Zeit mitteilt. Davon ist in der digitalen Uhr, welche die Zeit bloß anzeigt, nichts zu spüren. (Abb. 11)

Die von Hand geschaffene mechanische Uhr umgibt eine Aura, in der sich dem aufmerksamen Betrachter das Wesen der Zeit mitteilt. Davon ist in der digitalen Uhr, welche die Zeit bloß anzeigt, nichts zu spüren. (Abb. 11)

Verlust von Wirklichkeit – und mehr

Bewegte man sich einzig und allein in der Welt der Künstlichen Intelligenz, erlitte man einen schmerzlichen Verlust von Wirklichkeit. Doch dies ist nur einer der Verluste, die von einer überbordenden Digitalisierung drohen. Weitere Gefahren, die mit einer alle Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung einhergehen können, sind Kritikverlust und Kontrollverlust. Was damit gemeint ist, sei in den folgenden, letzten Zeilen angedeutet:

Unaufhaltsamer Trend zum Digitalen

Anscheinend unaufhaltsam setzt sich der Trend des „Digital only“ durch: Man wird dazu gedrängt, sich der Digitalisierung bedenkenlos überall dort zu bedienen, wo immer es möglich ist: Es sei bequemer, schneller, preisgünstiger. Den unbestreitbaren Vorteilen stehen hingegen Bedenken gegenüber:

Verwandeln doch digitale Geräte alles, was man ihnen anvertraut, in Ketten von Bits. Und nur Algorithmen können solche scheinbar wirren Folgen der Symbole O und I sinnvoll bearbeiten.

Es fehlt der Überblick

Es handelt sich dabei um Algorithmen, die zumeist von rein gewinnorientierten Firmen ausländischer Provenienz entwickelt wurden und ständig verändert werden. Niemand hat hier den Überblick. Man muss den Algorithmen vertrauen. Und ob dieses Vertrauen auf festem Fels gegründet ist, sei dahingestellt. Auch wenn digitale Firmen treuherzig versprechen, für Datensicherung zu sorgen: Wer weiß wirklich, welche geheime Hintertüren in den Algorithmen eingebaut sind, wie verletzlich sie gegenüber Angriffen von Datendieben sind, welcher Unfug mit den Daten angerichtet werden kann?

Begründete Skepsis gegen elektronische Wahl

Aus einem gerechtfertigten Misstrauen heraus ist zum Beispiel dem Vorschlag, Wahlen elektronisch und digital durchführen zu lassen, mit aller größter Skepsis zu begegnen. Selbst wenn die Abstimmung im Parlament nicht mehr, wie im österreichischen Nationalrat üblich, bei Zustimmung durch ein Erheben von den Sitzen, sondern elektronisch und digital durch Knopfdruck erfolgen soll, gibt es gute Gründe, sich dagegen auszusprechen. Denn irgendwo auf dem Weg vom Knopfdruck zum Bildschirm, auf dem das Ergebnis erscheint, sind „Gehirne“ von Intelligenzmaschinen mit ihren völlig undurchsichtigen „neuronalen Netzen“ zwischengeschaltet. Niemand kann mit hundertprozentiger Sicherheit garantieren, dass dort kein böses Virus schlummert, das plötzlich aufwacht und sein Unwesen treibt.

Setzt sich „Digital only“ flächendeckend durch, wird diese Kritik, so berechtigt sie ist, möglicherweise verstummen.

Abhängigkeit beunruhigt

Dies führt zu einem weiteren Grund gegen das „Digital only“: Wer digitale Geräte benutzt, liefert sich undurchschaubaren Mächten aus. Nun mag man dagegenhalten, dass man nie uneingeschränkt eigenmächtig ist, stets von anderen abhängig, bis hin zur Abhängigkeit von Gesetzen der Natur. Doch die Digitalisierung mit ihrer Unentwirrbarkeit verleiht der Abhängigkeit eine beunruhigende Dimension. Ein Beispiel mag es verdeutlichen:

… denn Funktionsweise ist unverständlich

Im Unterschied zu den schönen Oldtimern des vorigen Jahrhunderts ist das heutige Auto ein Computer auf vier Rädern. Zwar mag es dem Fahrer noch das Gefühl vorgaukeln, der Motor gehorche unmittelbar dem Druck des Gaspedals, die Räder gehorchen unmittelbar dem Drehen des Lenkrads, aber in Wahrheit sind digitale Maschinen dazwischengeschaltet.

Die Funktionsweise des Oldtimers, die Mechanik der Lenkung, der Druck der Flüssigkeit beim Bremsen, das kontrollierte Explodieren des Kraftstoffs im Motor, ist demjenigen, der ihn fährt, im Prinzip klar. Er ist zwar von der Funktionstüchtigkeit abhängig, aber er weiß zumindest im Prinzip, worauf er sich einlässt. Im Unterschied dazu sind die Funktionsweisen der im modernen Auto dazwischenliegenden digitalen Geräte auch technisch gebildeten Fahrern ein Rätsel und selbst Experten digitaler Systeme nur ausschnitthaft verständlich. Diese absolut undurchsichtige Kompliziertheit des Computers verleiht der Abhängigkeit des Fahrers von den digitalen Maschinen etwas Beängstigendes, das wir leichthin wie im Blindflug überspielen.

Joseph Weizenbaum mit seiner Leica (Abb. 12)

Joseph Weizenbaum mit seiner Leica (Abb. 12)

„Digital only“ führt in die neue Unmündigkeit

Darum verzichtet, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wer sich im Sinne des „Digital only“ mit Haut und Haaren der Digitalisierung ergibt und auf die Künstliche Intelligenz, genauer: auf die simulierte Intelligenz verlässt. Wer dies tut, begibt sich freiwillig und frohgemut in die selbstverschuldete Unmündigkeit.

Lassen wir in diesem Zusammenhang als Gleichnis Joseph Weizenbaum, ELIZAs „Vater“, zu Wort kommen: Seinen Lebensabend verbrachte er in seiner Geburtsstadt Berlin, und er bekam von seinen Freunden eine hochmoderne Leica geschenkt, mit der er mit großem Eifer Berliner Szenen fotografierte. Plötzlich entdeckte er, dass man die Kamera auf einen schwarz/weiß-Modus umstellen kann. „Wunderbar“, äußerte er sich begeistert, „damit kann ich die Farben viel besser sehen!“

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Die Bildquellen:

Abb. 1: © Roland Schlager, apa – https://futurezone.at/digital-life/oesterreichischer-computerpionier-heinz-zemanek-ist-tot/75.350.384

Abb. 2: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mail%C3%BCfterl.jpg

Abb. 3: creative commons – https://www.flickr.com/photos/pepihasenfuss/361777845

Abb. 4: creative commons – https://www.flickr.com/photos/kt/5285567782

Abb. 5: creative commons – https://www.pexels.com/photo/webpage-of-chatgpt-a-prototype-ai-chatbot-is-seen-on-the-website-of-openai-on-a-smartphone-examples-capabilities-and-limitations-are-shown-17887855/

Abb. 6: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pieter_Bruegel_d._%C3%84._(1525-1569)_-_Das_Schlaraffenland_-_8940_-_Bavarian_State_Painting_Collections.jpg

Abb. 7: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sepp_Hochreiter_3.jpg

Abb. 8: creative commons – https://ccnull.de/foto/roboterhand-erntet-frische-tomaten-in-moderner-landwirtschaft/1103982

Abb. 9: creative commons – https://stockcake.com/i/drone-over-apocalypse_850237_746358

Abb. 10: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:John_von_Neumann.jpg

Abb. 11: creative commons – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Montre_squelette.jpg

Abb. 12: creative commons – https://www.flickr.com/photos/pepihasenfuss/361777848