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Gedanken über das Gedenken
Drei Anmerkungen von Rudolf Taschner anlässlich der Veranstaltung gegen Rassismus und Antisemitismus am 5. Mai 2023 im Bundesversammlungssaal des Parlaments in Wien.
Erste Anmerkung: zu Gedenkveranstaltungen
Gedenkveranstaltungen zu organisieren, insbesondere jene, welche Zeit und Umstände der Naziherrschaft betreffen, ist eine höchst heikle Angelegenheit. Die Erwartungen der verschiedenen Interessengruppen liegen weit auseinander: Manchen wird zu wenig gesagt. Manche stimmen mit den Ausführungen und Appellen nicht überein. Manchen wird zu viel geredet. Oft ist es ein einziges Wort, das Verstörung oder Unmut veranlasst.
Ein Beispiel für viele: Seit einigen Jahren begeht man am 8. Mai das „Fest der Freude“. Es wurde ins Leben gerufen, um jenen lautstark zu widersprechen, welche die bedingungslose Kapitulation Deutschlands 1945 als Niederlage betrauern. Freude ist das Gegenwort zu Trauer, also habe man im Gedenken an dieses Ereignis ein Fest der Freude zu feiern. So der gut gemeinte Vorschlag.
Nicht bedacht wird dabei jedoch, dass heitere Unbeschwertheit, die mit Freude stets einhergeht, zu diesem Jahrestag ganz und gar nicht passt. Kostete es doch das Leben von Millionen, zerrüttete es doch unzählige menschliche Existenzen, war doch unermessliches Leid zu ertragen, bis endlich das Grauen der Naziherrschaft überwunden war. Wie soll angesichts dessen Freude das passende Wort sein?
Wäre nicht zum Beispiel „Fest der Befreiung“ der Sache gerechter? Wiewohl auch bei diesem Worte ein Körnchen Salz zu finden ist. Hatte doch Leopold Figl nicht am Tage der deutschen Kapitulation, sondern erst zehn Jahre und eine Woche später feierlich verkündet, dass jetzt Österreich frei sei.
Und wird, wenn bereits der richtige Titel so schwer zu finden ist, das Gedenken des Untergangs von Hitlers Reich in angemessener Form begangen?
Doch mit der Wahl der richtigen Worte fangen die Schwierigkeiten bei den Gedenkveranstaltungen erst an. Mit den immer gut gemeinten, doch zuweilen völlig verfehlten Absichten setzen sich die Probleme fort:
Meinen doch manche, es bedürfe einer Zurschaustellung von Zerknirschung, da „kollektive Scham“ dazu veranlasse. Aber kollektive Scham gibt es genauso wenig wie kollektives Gewissen oder kollektives Gedächtnis. Diese Begriffe sind Erfindungen jener, die Individuen in Kollektive aufgehen lassen wollen, die den von den Hochreligionen geerbten Glauben für überwunden erachten, dass nur der Einzelne sich schämen kann, dass nur der Einzelne Gewissensbisse fühlt, dass nur der Einzelne ein Gedächtnis besitzt.
Meinen doch andere, es sei vom Publikum der Gedenkveranstaltungen das „Lernen aus der Geschichte“ pathetisch einzufordern. Weil, so der gängige Spruch, man sonst zu ihrer Wiederholung verdammt sei. Dieses Phantasma entlarvte Rudolf Burger mit luzider Nüchternheit: „Was man aus den Gräueltaten der Nazis, deren museale Pflege zur pädagogischen Obsession geworden ist, moralisch lernen können soll, das man nicht schon vorher wusste, verschließt sich jedem Raisonnement.“
Tatsächlich könnte man erst dann aus der Geschichte lernen, wenn man Geschichte lernt – und zwar jene der seriösen Geschichtsschreibung, nicht die vom sich politisch korrekt wähnenden Zeitgeist durchwobene und verfälschte. Tatsächlich mangelt es am Lernen der Geschichte, notabene der soliden Geschichte. Aber das ist ein Bildungsproblem und nicht eines von Gedenkveranstaltungen.
Schließlich meinen dritte, über den Weg von Gedenkveranstaltungen zu billigem Kleingeld zu kommen, sei es im wahrsten Sinne des Wortes, sei es politisches Kleingeld. Aber darüber mehr in den beiden nachfolgenden Anmerkungen.
Angesichts all dessen und noch mehr scheint der weitgehende Verzicht auf Gedenkveranstaltungen angeraten.
Sicher gibt es deren zu viele. In ihrer Masse wirken sie kontraproduktiv, unterdrücken historisches Wissen. Aber ganz auf sie verzichten darf man nicht. Denn wir sind keine Lotophagen, wir sind nicht jenes mythische Volk, das sich von der Frucht des Lotosbaumes ernährt, die so berauscht, dass man alles vergisst und in einer ewigen Gegenwart wie ein Tier scheinbar glücklich vegetiert. Wir aber leben in der Zeit. Einwurzelung, so das schöne Wort von Simone Weil, gibt uns Halt. Gedenkveranstaltungen, in rechter Weise konzipiert, helfen dabei.
Zweite Anmerkung: zu Gespächsführung
Bei der Veranstaltung gegen Rassismus und Antisemitismus am 5. Mai trat im Bundesversammlungssaal Michel Friedman als Teilnehmer eines Podiumsgesprächs schon deshalb ungut in Erscheinung, weil er die Gesprächsführung der Moderatorin störte und das Wort ungehörig an sich riss.
Doch viel abstoßender war, was er als Provokateur vom Dienst, der zu sein ihn offenkundig wohlig befriedigt, von sich gab. Vom Thron der von ihm beanspruchten Unangreifbarkeit herab entrüstete er sich theatralisch mit haltlosen Unterstellungen, die in den Ohren naiver Gegner von FPÖ und ÖVP wie Sirenentöne klangen. So sonnte sich Herr Friedman, alias Paolo Pinkel (doch mit bebendem Gestus flehte er seinerzeit um „eine zweite Chance“), im Applaus der von ihm Betörten. Er missbrauchte die Gedenkveranstaltung für seinen Auftritt. Die Intention, der sie diente, war ihm naturgemäß egal. Seine lackiert formulierte Erregung wollte er inszenieren, und seinen Bewunderern gefiel‘s. Dies betrachtend kam mir das pointierte Wort Marshall McLuhans in den Sinn: „Moralische Empörung ist jene Strategie, die selbst einem Idioten Würde verleiht.“
Jedes weitere Wort darüber zu verlieren, wäre ein Wort zu viel.
Allein noch dieses: Schwer wiegt die Verantwortung, jene zu wählen, die bei Gedenkveranstaltungen zu uns sprechen. An ihnen liegt es, dass die Veranstaltung gelingt. Aristoteles nannte diejenigen Talentierte der Rede, die Ethos, Logos und Pathos in sich vereinen. Nur Vorbilder glaubhafter Gewissenhaftigkeit, wahrheitsliebenden Denkens und stilvollen Auftretens sollten in Gedenkveranstaltungen das Wort ergreifen dürfen.
Dritte Anmerkung: zu moralischer Überheblichkeit
Noch mehr, als das vorhersehbar deplatzierte Auftreten des Herrn Friedman ärgerte der Applaus, den er sich einheimste. Denn die Klatschenden müssten eigentlich wissen, dass es nicht die ÖVP war, sondern die SPÖ, welche die FPÖ salonfähig machte.
Als dies geschah, hatten in dieser Partei tatsächlich noch Ehemalige das Sagen, und ein früherer SS-Obersturmführer und Mitglied einer Mörderbrigade stand ihr vor. Kein Hindernis für Bruno Kreisky, diesen Mann, Friedrich Peter, in das Präsidium des Nationalrats hieven zu wollen. Und als ihm dabei ein einst in Mauthausen Geknechteter in die Parade fuhr, erging sich jener in wüstesten Beschimpfungen und sein Adlatus, der spätere Bundespräsident Heinz Fischer, schlug sogar einen Untersuchungsausschuss gegen Simon Wiesenthal vor.
Und nichts hinderte Bruno Kreisky daran, seinen in dieser Sache eher hilflos agierenden Nachfolger Alfred Sinowatz zu einer Koalition mit der FPÖ zu verleiten.
Und noch Weiteres dieser Tonart könnte erzählt werden. Es liegt mir aber völlig fern, daran anklagend oder gar moralisierend erinnern zu wollen. Ich stelle es bloß nüchtern fest. Ja ich hielt schon damals und halte auch heute noch die seinerzeit leise, weil eben nicht von linker Seite kommend, daran geäußerte Kritik für überzogen. Kreisky handelte sicher klug, wenn er Peter als geläutertem Ehrenmann die Hand reichte – seiner Absicht, mit einem Hofieren der FPÖ der ÖVP zu schaden, diente es allzumal.
Doch all dies ist längst verblichene Geschichte. Die von Herrn Friedmans Beleidigungen Beeindruckten haben sie aber entweder nicht gelernt oder verdrängt.
Und wie damals, so scheut auch heute die SPÖ nicht die innige Berührung mit der FPÖ, dient es nur ihren Interessen. Sei es, dass der letzte SPÖ-Bundeskanzler nach verlorener Wahl gierig die Fühler nach der FPÖ ausstreckte, Vranitzkydoktrin hin oder her. Sei es, dass man in traulicher SPÖ-FPÖ-Gemeinsamkeit einer ganzen Bundesregierung das Misstrauen aussprach. Sei es, dass ein Landeshauptmann zur Rettung der Macht in seinem kleinen Bundesland ohne geringste Skrupel in der FPÖ einen begehrten Koalitionspartner fand.
Nochmals sei betont: Das ist gängiges politisches Geschäft. Diese Spielart des Geschäfts selbst zu betreiben, wenn es opportun ist, aber seinem Konkurrenten mit dem vor aller Welt demonstrierten Gestus moralischer Überheblichkeit eben diese Spielart als unsittlich vorzuwerfen, gehört mit zum Verächtlichsten, was an Tartüfferie denkbar ist.